Um 1806 sollen in Wien nach einem Augenzeugenbericht Schweizer Spielwerke nachgebaut worden sein

 

Leider fehlen zu dieser Behauptung von Keeß sowohl die
1.) Namen der Spielwerkmacher,
2.) wurden bisher keine signierten bzw. gemarkten Spielwerke gefunden, und
3.) keine weiteren Aussagen in Zeitungen oder anderen Quellen, die als Bestätigung der Aussage von Keeß aufgefasst werden könnten.

4.) Wieso Keeß sich eineinhalb Jahrzehnte später so genau daran erinnern kann, dass es genau im Jahr 1806 gewesen sein muss, lässt sich nicht so ohne weiteres erklären. Vielleicht gab es ein einschneidendes Erlebnis in seinem Leben, das sich am selben Tag abspielte und daher ist die Vernüpfung mit dem Jahr 1806 richtig. Oder die Jahreszahl 1806 beruht nur auf einer Schätzung, der eine gewisse Unsicherheit anhaftet. Es könnte genauo auch ein oder zwei Jahre davor oder danach gewesen sein.

 

Die (gute) Bonität der Aussagen des Autors Stephan von Keeß ist im Abschnitt über die Niederlassung von vier Kammspielwerkmachern um 1820 ausführlich zur Diskussion gestellt.

 

Wenn sich Keeß in den genannten Büchern auch über das Jahr 1806 äußert, bleibt er allerdings seltsam vage und unbestimmt:

 

„Im Inland wurden sie [die Carillons, wie er die Sektionalkammspielwerke nannte] um das J[ahr] 1806 in Wien zuerst nachgemacht.“

 

Im Jahr 1809 wurde aus einer Verlassenschaft zwar eine „Stockuhr mit Spielwerk aus Stahl“, also eindeutig ein Sektionalkammspielwerk, („auf der hohen Brücke Nr. 155“, nach der Zweiten Hausnummerierung Wiens) verkauft (Wiener Zeitung 27. September 1809, S. 15). Es wird vermutlich ein Schweizer Produkt gewesen sein. Beeindruckend ist nur der Hinweis auf den Stahl! Es fiel also auf, dass keine Glocken vorhanden waren und die Uhr trotzdem spielte. Also muss deren Rückseite geöffnet worden sein und man stieß dabei auf ein „Spielwerk aus Stahl“.

 

Mehr als ein halbes Jahr später kam es zu einer Zwangsversteigerung, bei der „Stock-, Wand- und Penduluhren“ unter den Hammer kamen, wovon immerhin „einige [!] mit Spielwerk“ ausgestattet waren (Wiener Zeitung, 19. Mai 1810, S. 28). Die Uhren werden von Wiener Uhrmachern angefertigt worden sein, woher die Spielwerke stammen, wurde nicht vermerkt.


Selbst wer Keeß folgen will, wird in seinem Glauben an den Satz

 

„Im Inland wurden sie um das J[ahr] 1806 in Wien zuerst nachgemacht.“

 

dadurch erschüttert, dass es überhaupt keine weitere Bestätigung gibt. Dieser einzige und nur sehr vage Satz wird ganz offensichtlich nicht durch einen Augenzeugenbericht gestützt, sondern man kann den Eindruck gewinnen, dass Keeß im Jahr 1806 ein Gerücht zu hören bekam, dass angeblich nunmehr in Wien die genannten Nachbauten gefertigt werden. Beim Verfassen seiner Bücher hat er sich an dieses Mem erinnert und dieses zu Papier gebracht. Wieso er sich etwa eineinhalb Jahrzehnte später noch daran erinnern kann, kann nur durch die Verknüpfung mit einem anderen einschneidenden Gedächtnisinhalt privater oder politischer Natur gewesen sein.

 

Kann das Gerücht, auf das sich Keeß offenbar stützt, überhaupt stimmen? Oder gab zumindest ein Wiener Uhrmacher damals, Keeß gibt für „damals“ das Jahr 1806 an, ein Schweizer Spielwerk für sein eigenes aus, weil es mehr oder weniger illegal, die Importverbote verletzend, in seine Hände gelangt war? Wenn dieser Uhrmacher das inkriminierende Werk als sein eigenes bezeichnet, war er auf der sicheren Seite.

 

Solange kein weiterer Beweis für diese Aussage von Stefan Keeß gefunden wird, muss diese mit einem großen Fragezeichen versehen werden.

 

Der Verfasser dieser Zeilen und rechtlich Verantwortliche für diese Webseite, Otmar Seemann, der nicht einmal die Jahresangabe 1806 wirklich ernst nimmt, ist derselben Meinung wie Helmut Kowar, der seinen Aufsatz „Die Anfänge der Spielwerkerzeugung in Wien“, in: 2017 International Forum on Audio-Visual Research – Jahrbuch 8, S. 82 bis 91“, enden läßt wie folgt:

 

„solange keine neuen Quellen eindeutige Hinweise liefern und aus den Spielwerken selbst nichts Näheres herauszulesen ist, bleibt die Herkunft dieser frühen Instrumente im Dunkeln. Die äußerst dürftige Quellenlage, was die schriftlichen Nachrichten anlangt, und das völlige Fehlen von Spielwerken aus der Zeit von ca. 1806 bis zum Auftreten Anton Olbrichs, die man eindeutig als Wiener Nachbauten der Schweizer Spielwerke identifizieren könnte, lassen mit aller gebotenen Vorsicht den Schluss zu, dass vor oder neben Anton Olbrich und Franz Rzebitschek kaum eine Produktion von einiger Relevanz für die Entwicklung der österreichischen Spielwerke stattgefunden hat; für eine Aufklärung der Situation kann man nur auf neue Funde hoffen und darf auf Überraschungen gespannt sein.“

 

Die Fettauszeichnung der Jahreszahl „ca 1806“ ist nicht original, sondern hier eingefügt, um zu betonen, dass auch Kowar diese Datierung nur als eine Ungefährangabe erachtet.

 

Man kann Besitzer von in Frage kommenden Spielwerken nur eindringlich appellieren, dass sie ihre Sammelobjekte der Forschung für eine genaue Inspektion und für die Anfertigung von Fotos zur Verfügung zu stellen.


Nebstbei: Das Jahr 1806 ist das Todesjahr von Pater Primitivus Niemetz, der als bedeutender Flötenwerkhersteller von sich reden machte. Mindestens zwei seiner Flötenwerke sind noch in privater Hand.