Das folgende Kapitel fusst zum Teil auf dem ausgezeichneten Aufsatz von Eduard Saluz: Klingende Stahllamellen – ihre Erfindung und Evolution von 1800-1850. In: Das mechanische Musikinstrument Nr. 82 (2001), S. 11-21.

Das Schweizer Spielwerk erhielt seine endgültige Ausprägung in den Jahren 1814 bis etwa 1830/1850 durch Mitglieder der Familie Lecoultre und François Nicolle

1.) François Lecoultre, 1782-1829, erfand 1814 den Kamm in einem Stück,
2.) sein Neffe Charles-Antoine Lecoultre, 1803-1881, dessen Vater und somit der Onkel von François Lecoultre, Jacques-David Lecoultre, 1781-1850, arbeiteten an Verbesserungen, die der Erfindung von François Lecoultres zugute kamen, und

3.) François Lecoultres Schwiegervater François Nicole, 1876-1849, erfand um 1816 die Dämpfer und verwendete sie etwa ab 1822. (Einen Patentschutz gab es damals in der Schweiz nicht.)


Ad 1) François Lecoultre, 1782-1829, erfand 1814 den Kamm in einem Stück


Ad 1) François Lecoultre, 1782-1829, erfand 1814 den Kamm in einem Stück

François Lecoultre, (1782-1829), übersiedelte 1814 vom im Vallée de Joux  nach Genf, und noch im selben Jahr gelang ihm die obgenannte Erfindung

Warum ging Lecoultre gerade im Jahr 1814 nach Genf? Vermutlich wollte er auf Grund der damaligen politischen Lage nicht früher seinen Wohnsitz ändern!

Dazu ein kleiner historischer Exkurs: Am 15. April 1798 wurde Genf von Frankreich  annektiert. Der Vereinigungsvertrag vom 26. April 1798 regelte die Überführung der Republik Genf in den französischen Staat. Im August 1798 wurde die Stadt Hauptort des neu geschaffenen Département Léman. Während der französischen Periode wurde der Code civil eingeführt und die Stadt wurde zum Mittelpunkt der Verwaltung der ganzen Region, was ihr auch wirtschaftliche Vorteile brachte. Allerdings wurden seit 1802 in Genf auch Truppen für die Koalitionskriege ausgehoben. Am 31. Dezember 1813 wurde Genf von österreichischen Truppen besetzt. Nachdem zuerst die Unabhängigkeit der Stadtrepublik ausgerufen worden war, bat Genf um Aufnahme in die Schweizerische Eidgenossenschaft. Am 1. Juni 1814 landeten schweizerische Truppen in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses in Genf und am 12. September bestätigte die eidgenössische Tagsatzung offiziell die Aufnahme Genfs als 22. Kanton in die Eidgenossenschaft. Der Vereinigungsvertrag wurde am 19. Mai 1815 unterzeichnet. (Wikipedia)
Das genaue Datum der Übersiedlung nach Genf und auch das der Erfindung ist nicht bekannt. Wenn Lecoultre nur in einem freien Genf leben wollte, kann er nicht vor dem 1. Juni angekommen sein. Die Gefahr, für die französischen Truppen assentiert zu werden, war ja vorbei.
Der um zehn Jahre jüngerer Bruder von F. L., der Spielwerkmacher Henri-Joseph Lecoultre, 1792-1856, zog erst „später“, wie es immer, so auch bei Eduard Saluz, zitiert wird, vom Vallée de Joux nach Genf. In die Entwicklung des der Spielwerke griff er nicht direkt ein bzw. gibt es keine Berichte.

F. L.s Neffe, Charles-Antoine Lecoultre, 1803-1881,

blieb im Vallée de Joux und griff 1819 die Idee des „single section combs“ auf und wurde bei von seinem ebenfalls im Vallée de Joux beheimateten Vater, Jacques-David Lecoultre, 1781-1850, unterstützt.

Es mag erstaunen, dass ein erst 16-jähriger Jüngling maßgeblich an einer so innovativen Erfindung beteiligt sein soll, Charles-Antoine Lecoultre war aber außergewöhnlich begabt und tüchtig.

Charles-Antoine Lecoultres Sohn sollte später bestätigen: „Mit 16 unternahm er seine erste wichtige Arbeit, die Herstellung von Tonkämmen für Musikdosen, die er seinen Onkeln [recte: Onkel, gemeint: François Lecoultre, 1782-1829] nach Genf lieferte.“ Anhand noch erhaltener Rechnungsbücher hat Pierre Germain für die Zeit von 1823 bis 1827 eine Produktion von mindestens 1.300 Tonkämmen nachgewiesen. Das sind etwa etwas mehr als 200 Kämme pro Jahr.


Der aus dem Vallée de Joux im schweizerischen Waadtland stammende François Lecoultre (1782-1829) kam im Jahr 1814 nach Genf und schrieb sich durch die im selben Jahr gelungene Erfindung des Tonkammes aus einem Stück, in die Geschichte der Kamm- bzw. Walzenspielwerke ein. Mit seinen „single section combs“ waren „kräftigere“ und „angenehmere“ Töne zu erzielen, wie 1828 ein Genfer Autor, (De Candolle: Rapport sur l´ exposition des produits de l´industrie genevoise. Genf 1828), berichtete. Seine anfänglich noch im Experimentalstadium befindliche Erfindung verbreitete sich erst ab 1818, in größerem Stil wurde die Innovation erst ab 1819 seinem damals erst sechzehnjährigen Neffen Charles-Antoine Lecoultre, 1803-1881, (bei Saluz Abb. 12), aufgegriffen, der auch auf die Hilfe seines Vaters Jacques-David L., 1781-1850, (bei Saluz Abb. 13), der als Schmied im Vallée de Joux tätig war, verlassen konnte.

Die Rolle von François Lecoultre in Genf ist keinesfalls zu vernachlässigen. Als Abnehmer der Tonkämme begleitete er die Arbeit seines Neffen (Charles-Antoin F.) und Onkels (Jacques-David L.) intensiv und gab Anregungen und leeß es an konstruktiver Kritik nicht fehlen. Anhand des noch erhaltenen Briefwechsels zwischen Genf und dem Vallée de Joux können wir für die Zeit zwischen etwa 1820 und 1830 detailliert verfolgen, wie sich die Entwicklung gestaltete.

Der Kammrohling
Ausgangsmaterial war englischer Stahl erster Qualität. […] Am 27. Januar 1821 schrieb François seinem Neffen Charles-Antoine ins Vallée: „In der letzten Lieferung hatte es sowohl gute wie schlechte Stücke. Du musst ausschließlich sehr feinen und zähen Stahl verwenden. Ich glaube, das ist das einzig Richtige.“

Das Fräsen der Lamellen durch Scheibenfräser
Noch vor dem Härten wurden die einzelnen Lamellen ausgefräst. Das Fräsen der dünnen Schlitze zwischen den Lamellen in den zähen Stahl erfolgte durch spezielle Scheibenfräser, die Charles-Antoine Lecoultre, erfand und in großen Stückzahlen herstellte. Ab 1825 verkaufte Charles-Antoine die Lamellenfräser separat und im  Jahr 1828 gab er die Fabrikation von Tonkämmen ganz auf.

Die Zungenspitzen dürfen nicht die ganze Breite der Zungen umfassen sondern müssen schmäler sein, um nicht die Nachbarspur zu errassen.

Härtung und das Anlassen
Die nun folgende Härtung und das Anlassen waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts anspruchsvolle Aufgaben. Wichtig ist, dass sich die Kämme nicht verziehen. Die thermische Behandlung führt nun oft zu einem Verziehen der Lamellen. Dieser Makel muss mit speziellen Werkzeugen wieder zurecht gehämmert werden.

Polieren des Kammes
Dabei finden wir alle Schattierungen zwischen grober Zugefeilung bis zu einer ganz feinen Oberfläche. Normalerweise läuft der Strich parallel zu den Lamellen, einzelne Fabrikanten feilten die Basis quer.

Stimmung
Jedes Musikstück erforderte eine andere Verteilung der Lamellen auf dem Tonkamm. Schnelle Repetitionen des gleichen Tons sind nur möglich, wenn die gleiche Tonhöhe mehrmals nebeneinander ausgeführt werden kann. Mit einer Feile wurden die einzelnen Lamellen auf der Unterseite so zugefeilt, dass sie korrekt tönten. Wichtig war nicht nur die Tonhöhe, sondern auch die Klangqualität, die Gleichmäßigkeit und die Reinheit der Schwingungen. Dabei traten Schwierigkeiten auf. François Lecoultre schrieb am 27. Januar 1821 „… die kleinen schlanken (Tonlamellen) in der Mitte sollen einen klaren Ton haben […] und vor allem keine, welche seitlich (de travers) schwingen […] Dazu braucht es eine gute Härtung und vor allem ein gutes Verhältnis in der Stärke der Lamellen.“

In den ersten Jahren nach 1820 wurden fertig gestimmte Tonkämme aus dem Vallée de Joux nach Genf geliefert
Die Besteller lieferten die Angaben zu Länge, Lamellenzahl und Stimmung und erhielten einen fertigen Tonkamm.

Schon 1822 erhielten die Lecoultres im Vallée de Joux aber auch geschmiedete Rohlinge aus Genf zum Fräsen
und umgekehrt wurde das Stimmen nun beim Hersteller des Spielwerkes in Genf ausgeführt

Ab 1825 verkaufte Charles-Antoine Lecoultre die Lamellenfräser separat und 1828 gab der erst 25-jährige die Fabrikation von Tonkämmen ganz auf.
Ausschlaggebend war der Preisverfall durch die Konkurrenz der nahe bei Genf produzierenden anderen Tonkamm-Hersteller. Er wandte sich der Uhrmacherei zu und gründete die noch heute unter dem Jaeger-Lecoultre weltberühmte Uhrenmanufaktur.


Eduard Saluz: Klingende Stahllamellen – ihre Erfindung und Evolution von 1800-1850. In: Das mechanische Musikinstrument Nr. 82 (2001), S. 11-21